Der neue Transportroboter »O3dyn« für die Intralogistik ist schnell und flexibel hoch 3, ausgestattet mit jeder Menge hochaktueller Technik. Dabei hätte die ursprüngliche Anforderung an die Entwickler auf einen Bierdeckel gepasst… Max Gössner und Niklas Ullrich aus dem Silicon Economy-Entwicklungsteam sprechen über den Entwicklungsprozess, Meilensteine und Durchbrüche – und darüber, was der Roboter mit Apple zu tun hat.
Im Gegensatz zu den meisten Fahrerlosen Transportsystemen, die entweder eine hohe Leistungsfähigkeit, Dynamik oder Flexibilität aufweisen und entweder für den Innen- oder den Außenbereich konzipiert sind, vereint der neue autonome und hochdynamische Transportroboter »O3dyn« (gesprochen Odyn) gleich alle drei Eigenschaften in sich: »O hoch drei« steht für »omnidirektional«, »outdoor« und »open source«. Er kann große Lasten im Format einer Europalette mit einer Fahrgeschwindigkeit von bis zu 36 km/h omnidirektional transportieren, dabei die geschützte und definierte Umgebung von Lagerhallen verlassen und auf dem Betriebsgelände dynamisch agieren. Max Gössner und Niklas Ullrich vom Fraunhofer-Institut für Materialfluss und Logistik IML gehören zum Entwicklungsteam des Transportroboters, der im Rahmen des Entwicklungsprojekts »Open Dynamics« der Silicon Economy entstanden ist – hier lassen sie den Entwicklungsprozess Revue passieren.
Silicon Economy: Mit »Odyn« habt ihr eine neue Klasse im Bereich der Transportroboter entwickelt: hochdynamisch und tatsächlich autonom. Wie seid ihr an das Projekt herangegangen?
Niklas Ullrich: Die Anforderung war erst einmal übersichtlich und hätte auf einen Bierdeckel gepasst: Es ging uns um einen »LoadRunner für Paletten«. Der »LoadRunner« ist eine Entwicklung des Fraunhofer IML – ein KI-basiertes High-Speed-Fahrzeug für den Hallenboden und ein erster Mosaikstein für die Silicon Economy. Seinen ersten großen Auftritt hatte er auf dem Digital-Gipfel der Bundesregierung 2019. Inzwischen wird der Prototyp in einem Enterprise Lab des Instituts mit der Kion Group, einem der weltweit größten Anbieter von Gabelstaplern und Lagertechnikgeräten, weiterentwickelt. Die Idee und das Konzept des »LoadRunner« galt es nun, auf Paletten – also schwere Lasten – zu übertragen und dabei die Lücke zwischen dem Transport in der Halle und außerhalb zu schließen.
Silicon Economy: Wie geht ihr als Forschende an eine solche Entwicklung heran: Seht ihr das fertige Fahrzeug von Anfang an vor euch?
Max Gössner: Der Prototyp für den »Odyn« wurde ja in unserer hauseigenen Werkstatt gebaut. Die Mechaniker haben uns ganz zum Schluss gefragt, ob denn das fertige Fahrzeug so aussieht, wie wir es uns vorgestellt haben. Ich konnte darauf eigentlich keine Antwort geben, denn wir alle hatten anfangs keine Vorstellung davon, wie dieses neue Transportfahrzeug einmal aussehen würde.
Niklas Ullrich: Im Ergebnis haben wir mit »Odyn« mehr als einen Prototyp geschaffen. »Odyn« ist ein Showcase für einen Transportroboter, der eine Vielzahl hochmoderne Technologien in sich vereint. Während in der Entwicklungsphase häufig extern lokalisiert wird, hatte »Odyn« von Beginn an jede Menge Sensorik an Bord. Je nach Praxiseinsatz werden möglicherweise nur einzelne Funktionalitäten benötigt. Aber: Wir haben gezeigt, was heute möglich ist – oder, um es in Anlehnung an Apple-Gründer Steve Jobs zu sagen: »We made it happen«.
Silicon Economy: Ihr habt »Odyn« während der Entwicklung immer wieder einem interessierten Fachpublikum vorgestellt und den Prototyp im Frühjahr 2022 nun zum ersten Mal auf Messen auch einem breiten Publikum vorgestellt. Wie ist denn die Resonanz auf das Fahrzeug?
Niklas Ullrich: »Odyn« ist tatsächlich kein Roboter, auf den die Industrie gewartet oder den die Industrie erwartet hat. Aber das ist ja bei vielen wegweisenden Entwicklungen so: Man weiß noch nicht, dass man etwas braucht, bis man es gesehen hat. Und so sind die Reaktionen begeistert: Jeder ist begeistert, was das Fahrzeug kann. Zunächst beeindruckt die Geschwindigkeit, mit der »Odyn« schwere Lasten wie Paletten transportieren kann. Herkömmliche Transportroboter legen mit solchen Lasten heute ein bis 1,5 Meter pro Sekunde zurück. Das sind rund fünf Kilometer pro Stunde. »Odyn« erreicht jedoch eine Fahrgeschwindigkeit von bis zu 36 Kilometer pro Stunde.
Max Gössner: Hinzu kommt, dass »Odyn« mühelos zwischen Halle und Außengelände wechseln kann. Viele heutige Fahrerlose Transportfahrzeuge kommen an den Hallentoren an ihre Grenze. Dann muss der Gabelstapler ran und beispielsweise den Transfer zwischen zwei Hallen übernehmen. »Odyn« schließt also wirklich eine Lücke im autonomen Transport.
Silicon Economy: Was waren für euch und das Team denn die Meilensteine im Entwicklungsprozess – gerade auch im Vergleich zum »LoadRunner«?
Max Gössner: Zunächst einmal die Geometrie: Der »LoadRunner« hat von oben gesehen eine achteckige Form und wird von oben beladen. Für »Odyn« haben wir die Form eines »Us« gewählt: Die Palette wird bei der Aufnahme dreiseitig umschlossen. Das war der erste Durchbruch für den neuen Transportroboter.
Niklas Ullrich: Der zweite ist das Fahrwerk. Hier haben wir uns für ein Luftfahrwerk entschieden. Das hat viele Vorteile. Die Luftfederung verhält sich immer gleich – egal ob das Fahrzeug beladen ist oder nicht. So hat »Odyn« immer sicheren Bodenkontakt, springt nicht im Leerzustand, schwimmt nicht bei der Fahrt mit schwerer Beladung. Bodenunebenheiten außerhalb der Halle werden zudem besser ausgeglichen. Das Luftfahrwerk hebt das Fahrzeug an, wenn es sich bewegt. Es kann somit Lasten unmittelbar vom Boden aufnehmen und auch dort wieder abstellen. So ist auch ein Nothalt des Fahrzeugs möglich: Mit herkömmlichen Bremsen hätte sich ein Stopp im Fall der Fälle – etwa wenn ein Mensch den Weg des Roboters unvorhergesehen kreuzt – bei der hohen Geschwindigkeit nicht realisieren lassen.
Max Gössner: Beim Luftfahrwerk, aber auch bei vielen weiteren Komponenten, hat uns die Automobilindustrie gute Dienste geleistet. Wie in der Logistik geht die Entwicklung dort ja auch zum autonomen Fahren. Da gibt es heute viele Möglichkeiten, die wir nutzen können.
Silicon Economy: Wie alle Entwicklungen aus dem Silicon Economy-Vorhaben werden die Quell- und Objektcodes für »Odyn« open source gestellt. Kann sich jetzt jedes Unternehmen seinen »Odyn« bauen?
Niklas Ullrich: »Odyn« ist eine Maximalanforderung. Ein späteres Serienfahrzeug wird vielleicht nur einen Ausschnitt der Möglichkeiten nutzen, die wir eingebaut haben. Aber das Schöne ist ja, dass sich jedes Unternehmen, das heraussuchen kann, was es braucht. Das ist wie beim Autokauf: Ich kann mir beim Konfigurieren überlegen, welchen Motor ich brauche, welche Ausstattung, welche Extras. Tatsächlich ist »Odyn« zunächst einmal eines: ein Prototyp. Bis zur Serienreife steckt hier noch eine Menge Entwicklungspotenzial drin.